Irgendwann im Laufe meines Lebens beginne ich mir die Frage zu stellen: Wer bin ich? In der Regel passiert das schon recht früh im Kindesalter. Ich mache einen Abgleich mit meinem Umfeld und stelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Gemeinsamkeiten bestätigen mich vermeintlich darin, dass alles okay ist und ich mir keine Sorgen machen brauche.
Puh, Erleichterung stellt sich ein.
Doch was ist, wenn ich im Vergleich Unterschiede bemerke? Was ist, wenn ich anders bin als die Anderen? Hier beginnt das Kopfzerbrechen. Ich strenge mich mehr an, zu verstehen, was schief läuft:
Wieso fühle ich mich ungenügend? Wieso bin ich so oft verärgert? Wieso kann ich nicht allein sein? Wieso will ich meistens allein sein? Wieso kann ich mich nicht durchsetzen? Wieso mache ich immer dieselben Fehler?
Wieso, wieso, wieso?
– Wieso bin ich so wie ich bin? –
Das ist eine ganz normale Frage, die wir uns immer wieder im Laufe unseres Lebens stellen. Mehr Klarheit können wir uns verschaffen, wenn wir ein bisschen mehr verstehen, wie sich unsere Persönlichkeit entwickelt. In der letzten Woche konnte ich wieder vier Tage bei einem Coaching-Weiterbildungsseminar die Seele baumeln und mich durch und durch inspirieren lassen. Ich beschäftige mich schon viele Jahre mit der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit, doch was ich in den letzten Tagen gelernt habe, hat so viel Licht in die Komplexität der Thematik gebracht und mein Bild von mir selbst und den Menschen in meinem Umfeld weiter vervollständigt.
Im Folgenden will ich meine Erkenntnisse mit Dir teilen und Dir Anregungen geben, Dich selbst für Dich alleine und in Beziehung zu anderen besser zu verstehen.
Am Anfang vor jedem Entwicklungsschritt steht die Erfahrung, die wir andauernd und wiederholt machen und die uns in unserem Verständnis von der Wirklichkeit der Welt nachhaltig prägt. Mache ich im frühen Kindesalter die Erfahrung, dass es z. B. nicht okay ist, Schwäche zu zeigen und zu weinen, lerne ich schnell, neue Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die mich stark und unverwundbar zeigen. In meinem Inneren haben sich die Erinnerungen an die Erfahrung, für Schwäche ausgelacht, bestraft oder verletzt worden zu sein, mit samt der Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen dauerhaft manifestiert. Diese starken Eindrücke der Verletzung haben mich tief erschüttert. Ich trage von nun an den Glaubenssatz in mir: ICH BIN NICHT GUT GENUG, SO WIE ICH BIN!
Daraus formt sich meine Innenwelt, ein Teil meiner individuellen Persönlichkeit. Das ist der gesamte Ausdruck meiner Person, der für andere von außen sichtbar wird.
Sobald ich auch nur den Hauch einer Gefahr verspüre, erneut mit meiner Schwäche ertappt und bloßgestellt zu werden, wechsele ich in der Regel unterbewusst und automatisch in einen sogenannten dominanten Zustand. Ich mache mich sichtbar groß, hebe mein Kinn und stolziere mit einer schützenden Coolness durch die Welt, bildlich gesprochen immer wachsam, nicht noch einmal am wunden Punkt berührt zu werden. Das Thema, das bei diesem Beispiel vordergründig ist, ist die Authentizität. Ich bemühe mich mit größter Kraftaufwendung zu beweisen, dass ich genauso stark und gut bin, wie alle anderen auch, um mit der Welt mithalten zu können. Es handelt sich hierbei um eine sehr große innere Not, die meine Existenz bedroht.
Wenn Du nun aufmerksam Deine Umgebung beobachtest, fällt Dir bestimmt die eine oder andere Person auf, die aus innerer Not heraus solche oder ähnliche Schutzmechanismen oft nutzt. Vielleicht kennst Du das auch bei Dir selbst? Ganz bestimmt sogar. Bei einer Präsentation kommt Dir dieser Ausdruck, wenn er etwas subtiler erscheint, beispielsweise sogar zugute. Hier musst Du Dich beweisen und Kompetenz ausstrahlen. Du willst schließlich Stärke beweisen. Im privaten Umfeld ist der dominante Zustand eher ungünstig und nachvollziehbar sogar beziehungsstörend. Die Person, die mit dieser inneren Not gefangen ist, kann sich in ihrer Wahrhaftigkeit nicht zeigen. Sie kann nicht authentisch sein, so wie sie von ihrem Wesen her wäre, wenn die innere Not sie nicht steuern würde.
Das Lebensthema der Authentizität trägt jeder von uns in sich, manchmal stärker und manchmal schwächer ausgeprägt und manchmal sogar in einer ganz anderen Erscheinungsform. Eine andere Ausprägung ist ein Zustand, der sich stark anpassend an die Erwartungen der Mitmenschen zeigt. Bestimmte frühkindliche Erfahrungen können dahingehend prägend sein, dass ich lerne, mich so zu verhalten, dass ich stets meinen Mitmenschen gefalle. Strenge Verhaltensregeln in der Erziehung können ein Beispiel für die Entwicklung eines anpassenden Zustandes sein. Ist es meinen Eltern z. B. wichtig, was die Nachbarn oder die Gesellschaft von uns denkt, lerne ich schnell, dass ich mich konform verhalten muss, wenn ich akzeptiert und wertgeschätzt werden will. Ich bin hoch sensibilisiert dafür, zu erkennen, in welcher Umgebung welche Regeln vorherrschen und welche Verhaltensweisen erwünscht sind. In der Regel sind solche Menschen in ihrem Umfeld sehr charmant und beliebt, fallen jedoch nicht unbedingt auf, auf gar keinen Fall negativ. Die innere Not dabei ist, dass sie sich schwer tun, sich mit ihren Bedürfnissen durchzusetzen und für sich selbst oder für jemand anderen Stellung zu beziehen. Sie haben keine Ecken und Kanten und schwimmen auf Kosten ihrer Integrität mit dem Strom mit. Auch diese innere Not fordert bei der Aufrechterhaltung der Fassade einen enormen Kraftaufwand. Als Außenstehende habe ich das Gefühl, diese Person einfach nicht greifen zu können. Ich komme nicht an sie heran.
Erkennst Du die Gefahr, die sich dahinter verbirgt? Abhängig von unseren Erfahrungen und Prägungen konstruiert jeder von uns sein individuelles Verständnis von Wirklichkeit. Wenn wir auf die Welt blicken und auf die Menschen, denen wir begegnen, bewerten wir nach Maßstäben unserer individuellen Wirklichkeit. Stell dir vor Du trägst eine Brille, deren Gläser folgende Filter beinhalten:
Deine Werte | Deine Erfahrungen | Deine Prägung durch Erziehung und Sozialisation | Deine kulturelle Herkunft | Deine momentane Stimmung | Dein Bildungsstand
Jeder von uns trägt eine Brille. Bei jedem einzelnen von uns die Zusammensetzung der Gläser jedoch unterschiedlich. Jede Wirklichkeit ist für sich einzigartig und für jeden von uns in sich geschlossen und wahr. Für den Anderen jedoch kann meine Wirklichkeit falsch sein, da sie durch seine Brillengläser betrachtet, eine ganz andere Wahrheit zeigt als wenn ich durch meine Brille blinzele.
Für die Alltagspraxis bedeutet das, ich muss in meiner Beziehung zu anderen Menschen genau hinschauen, was die Person bewegt und wie ihre Brillengläser beschaffen sind. Möglich wird das, wenn ich meine Offenheit und Neugier erhöhe und mein Gegenüber wirklich im Inneren verstehen möchte. Mit Empathie und mehr Verständnis komme ich diesem Ziel einen Schritt näher, verbessere meine Kommunikationskompetenz und bringe meine Beziehungsfähigkeit auf die nächste Entwicklungsstufe.
Probiere es mit einer einfachen Übung einmal aus.
Betrachte Deine Beziehung zu Deinem Partner, einem guten Freund, einem Familienmitglied oder einem Kollegen. Wann hast Du das Gefühl, Du kannst diese Person nicht gut greifen? Du verstehst einfach nicht, was zwischen Euch los ist? Oder Dir ist unbegreiflich, warum sich diese Person Dir gegenüber so verhält? Mache Dir eine ganz konkrete Situation bewusst, die konfliktreich ist und beantworte nach und nach folgende Fragen:
- Wie verhält sich die Person in dieser Situation? Was tut sie genau? Was sagt sie? Wie sagt sie es?
- Was löst dieses Verhalten konkret in Dir innerlich aus? Wirst du z.B. unsicher oder enttäuscht?
- Wie reagierst Du aufgrund dieser im Inneren entstandenen Gefühle und Gedanken? Welches Verhalten zeigst Du?
- Wenn Du selbst Dein Verhalten auf Video betrachten würdest, was denkst Du, wie würde sich Dein Gegenüber aufgrund Deines Verhaltens fühlen? Was würde Dein Verhalten in der Person auslösen?
Diese Übung deckt die Wechselwirkung auf, die in jeder Begegnung mit anderen Menschen entsteht. Damit kannst Du größeres Verständnis für Konfliktsituationen in Deinen Beziehungen entwickeln, Dein Einfühlungsvermögen stärken und Deine Beziehungen nachhaltig verbessern.
Hast Du Fragen zur Übung oder ein konkretes Anliegen? Ich freue mich über Kommentare weiter unten in diesem Blog oder Deine Nachricht über das Kontaktformular.
Ich wünsche Dir viel Freude und Liebe bei der Gestaltung Deiner Beziehungen.
Herzliche Grüße
2 Kommentare
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Hallo Christina,
ein schöner Artikel.
Als Mensch steht man öfters vor der Frage, wie man engere Beziehungen zu Mitmenschen aufbauen kann. Wachsamkeit und echtes Interesse sind auf jeden Fall die Grundlagen. Aber auch die umgekehrte Betrachtungsweise des eigenen Auftretens hilft sich authentisch zu geben. Leider ist es in Echtzeit manchmal nicht möglich, auf Anhieb engere Beziehungen aufzubauen. Das erfordert viel Zeit und viel Intensität. Gewisse Grundlagen helfen da aber schon weiter. Eine gute Freundin hat mir mal gesagt: Menschen erinnern sich nach einem ersten Treffen weniger an den Inhalt eines Gesprächs, sondern eher daran, wie sie sich in deiner Nähe fühlen. Das hat mir sehr geholfen.
Schöne Grüße,
Marta
Hallo Marta,
vielen Dank für deine Nachricht hier im Blog. Das freut mich, dass dir der Artikel gefällt. Ich sehe es wie du. Es braucht wirklich viel Zeit, Intensität und auch echte Arbeit. Umso schöner finde ich deinen Zusatz, dass Menschen sich in der Regel vor allem daran erinnern, wie sie sich bei einem Menschen gefühlt haben. Genauso ist es! Wir Menschen sind eben hochgradig emotionale Wesen, die angetrieben durch unsere Emotionen reagieren und handeln. Ein Blick hinter unsere Reaktionen lohnt sich somit in jedem Fall.
Herzliche Grüße
Christina